Oder: Wie ich heute auf die Kunst kam…
Ein trüber freier Tag. Zeit für Indoor-Arbeit, dachte ich. So begann diese Sache. Eigentlich wollte ich nichts weiter als im „Knopfloch“ in Ostercappeln für mein neues Projekt ein paar Meter Stoff und ein paar Knöpfe zu kaufen… hin… rein… und – zack – wieder raus. Maximal 10 Minuten sollte das Ganze dauern. Eigentlich. Und dann sollte ICH, ein absoluter, überzeugter, ja sogar leidenschaftlicher Kunstbanause, mich plötzlich in Kunst verstricken! „Geh vorbei! Da, weiter links, da ist der Eingang zum Laden, in dem du den Stoff kriegst. Laß‘ doch das Bild!“, sagte es zwischen meinen Ohren. Aber ich hörte nicht. Ich blieb stehen. Gegen den Protest meines Gehirns.
Wo ich vielleicht Auslagen wie Stoffmuster, allerlei Bastelartikel und dergleichen erwartet hätte, wirft mich ein Bild auf einmal in Gedanken. Es ist kein Druck, kein Plakat. Es ist ein Original, ein reales Gemälde. Acryl auf Leinwand. Ein Schaufenster ist durchaus ein ungewöhnlicher Ort, um auf Kunst zu stossen. Aber es funktioniert! Auf einem kleinen Plakat links neben dem Gemälde erfahre ich: dieses Schaufenster ist Teil einer riesigen open air Kunstgalerie in der VarusRegion. In der „Schaufenstergalerie“ mischt Kunst sich hier in unser Alltagsleben, begegnet uns beim Einkauf, beim Bummel, und zwar ganz plötzlich dann, wenn man es – so wie ich – nicht erwartet hätte.
So stehe ich nun also da und betrachte dieses Bild. Eine Frau hält ein Mädchen auf dem Arm, das an mir vorbei blickt. Es scheint, als ob es gerade irgend etwas links hinter mir erspäht hat. Unwillkürlich will ich mich umdrehen, aber was soll da sein? Es ist ja nur ein Bild, das Mädchen weiß gar nicht, dass ich da bin. Es hebt seinen linken Arm, führt den Handrücken an seine Wange und nimmt seinen Ellenbogen hoch. All das, als ob es dabei nur flüchtig innehält, sich jeden Moment wieder abwenden wird. Die Frau ist vielleicht ihre Mutter. Sie wirkt mit ihrem warmen Lächeln irgendwie gedankenverloren. Was bewegt sie wohl gerade in diesem Augenblick? Ihr Blick ist voller mütterlicher Liebe und Stolz. Aber da ist noch etwas. Ist es die immerwährende unbestimmte Sorge, die in jeder mütterlichen Fürsorge unweigerlich steckt? Was wird aus meinem Kind? Wird es ein glückliches Leben haben? Wird es gesund bleiben, erfolgreich sein in allem, was es will, im Job? Wird es einmal Kinder haben? Was wird die Zukunft ihm bringen?
Ahmed Al Gburi. „Frau mit Kind“.
Und so bin ich nun also doch auf die Kunst gekommen. Die Kunst des Malers Ahmed Al Gburi. Was mir als Kunstbanause zunächst wenig sagte, ist Kennern ein Begriff. Ahmed Al Gburi stellt international aus, in London, in Dubai… und eben auch in der VarusRegion! Ein Glück, das wir dem Umstand zu verdanken haben, dass er mit seiner Familie seit sechs Jahren in Ostercappeln-Schwagstorf lebt und arbeitet. Doch dazu später mehr!
Als ich endlich die eigentliche Hauptsache des Tages erledigt und den kleinen aber feinen Laden verlassen hatte, wühlte ich in meiner Papiertüte voller frisch erworbener Stoffe und Knöpfe sofort das Booklet heraus, jenes kleine Heftchen, das der Ausstellungskatalog der „Schaufenstergalerie“ ist. Es lag dort aus. Und ich hatte frei. Indoor kann später. Also auf nach Bad Essen, wo derzeit noch ein Bild von Al Gburi in einem Schaufenster zu sehen ist.
Ich finde es im Schaufenster von N.R. Immobilien.
Zwischen Fotos von Häusern, die schon einen Käufer oder eine Käuferin gefunden haben, blickt mich diesmal ein Pferd an. Es ist ein Schimmel. Die Ohren aufmerksam aufgestellt, den Kopf kurz nickend, wirft er mir einen prüfenden Blick zu. Er hat weder Halfter noch Führstrick und macht überhaupt den Eindruck, als sei er noch nicht unterworfen, noch nicht dem menschlichen Willen gebeugt.
Die Farben sind lebhaft, strahlend, die Pinselstriche schnell und unmittelbar ausgeführt, allein mit der Betonung von Ohren, Nüstern und Auge stellt Gburi den Charakter des anmutigen Tieres heraus.
Ahmed Al Gburi. „Trinker der Lüfte“.
Im Katalog lerne ich, dass in Hunteburg ein weiteres Werk Al Gburis zu entdecken ist. Also auf nach Hunteburg, zum Kiebitzmarkt. Ich muss nicht lange suchen, vorbei an Blumenerdesäcken und Dekokisten und stapelweise Feuerschalen galoppiert es geradezu in den Laden hinein, den Blick nach links werfend. Doch die Reflexionen in der Fensterscheibe lassen es erscheinen, als ob der Schimmel gleichzeitig in die Gartenbepflanzung der Hunteburger Nachbarn hineinpflügen würde.
Wüstensand verwandelt sich zum Schein in das vergleichsweise langweilige, aber besser befahrbare Pflaster des Hofes hinter mir.
In Wahrheit gibt es in der gemalten Welt dieses Tieres natürlich weder Pflaster noch Blumenerde. Hier prescht es vielmehr durch den feinen Wüstensand auf einen dichten niedrigen Bewuchs zu, vor dem es zu scheuen droht. Welche Muskeln, welches Temperament, welche Kraft! Ist es der eben noch freie und ungebeugte Schimmel, dem ich in Bad Essen schon begegnet bin? Was ist passiert? Ich entdecke das Zaumzeug. Ist es der Grund für seine Flucht? Wovor flieht er? Läuft er dem Versuch davon, ihn zu bändigen?
Ahmed Al Gburi. „Raswahns Vermächtnis“.
Zwei weitere Werke Al Gburis gibt es in der Schaufenstergalerie zu entdecken. Ich bekomme sie allerdings nun auf andere Weise zu sehen, denn seine Telefonnummer steht im Katalog, und so kann ich mich für später mit ihm auf einen Plausch verabreden. Ich treffe Ahmed Al Gburi in Schwagstorf und wir setzen uns zu einem Gespräch bei Kaffee unter freiem Himmel zusammen. Er erzählt mir von sich und seiner Kunst. Studiert hat Ahmed Al Gburi in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts an der Academy Of Fine Arts in Bagdad, der Megametropole und Hauptstadt des Irak mit urlanger Geschichte, 70 Km Durchmesser, fast 12 Millionen Einwohner, wenn man die Vororte mitzählt. Nach seinem Studium lehrte Al Gburi an der Akademie Malerei bis er schließlich im Jahre 2015 nach Deutschland zog.
Im Werk „Piece“, das noch bis Ende September im Schaufenster der Steuerberatung Jankowski in Ostercappeln ausgestellt ist, fasst Gburi all das zusammen, was der Irak für ihn ist.
Ahmed Al Gburi. „Piece“.
„Piece“ ist ein energiegeladenes Bild, das für mich voller Geheimnisse ist, und das mich fragend dreinblicken lässt. Wenn man in einem Buch blättert, dessen Schriftzeichen man nicht zu deuten versteht, dann braucht es Übersetzung. Und jetzt wird es tief. Mit Hilfe Al Gburis tauche ich in das Bild ab, entdecke das Gesicht, das der davonfliegenden Taube, Symbol von Frieden und Freiheit, nachblickt, sehe drei Frauen mit unbedecktem Haar wie fragend beieinander stehen. Über ihnen steigt eine Keilschrifttafel wie ein riesiger Monolith empor. Hinter ihnen eine Palme, ein Gewässer. Aus einer Höhle am rechten Bildrand späht ein junges Männergesicht zu ihnen herüber. Zwischen ihnen befindet sich das Zentrum des Bildes. Aus drei Elementen setzt sich hier plötzlich eine Frau zusammen, die anders als die drei anderen ein Kopftuch, Hidschāb, über dem langen Kleid, Abaya, trägt. Ob sie ihr Gesicht zusätzlich hinter einem Schleier, Niqab, verbirgt, bleibt ungewiss. Links neben ihr scheint eine Stele zu schweben. Es ist dies jene berühmte Stele, auf der in altbabylonischer Keilschrift, den ältesten Schriftzeichen der Menschheit, der Codex Hammurapi oder auch Kodex Hammurabi genannt, die zweitälteste Sammlung von Gesetzestexten weltweit, geschrieben ist. In den Farben lodert Feuer. Sein Widerschein liegt auf allen Gesichtern. Im Jahre 2003 wurde das Land in ein unfassbares Chaos gerissen, aus dem es sich vielleicht kaum je erholen wird. Das Land, das mit dem Gilgamesch-Epos die älteste Dichtung der Menschheit hervorbrachte, wurde zum Schauplatz eines finsteren Dramas. Al Gburi und seine Familie haben das alles erlebt – und überlebt.
Ahmed Al Gburi zeigt mir noch ein weiteres seiner Bilder. Es heißt „Frau im Spiegel“. Man muss zweimal hinsehen, um die Tiefe des Bildes zu verstehen. Doch damit lasse ich euch allein.
Ahmed Al Gburi. „Frau im Spiegel“.
Was als reine Stoff-Einkaufstour für mich heute begann, wurde zum Kunsterlebnis eines Kunstbanausen. Und der hat nun mehr Stoff, mit dem er sich beschäftigen wird, als er ursprünglich geplant hatte.
Tipp: Alle Bilder Al Gburis, die hier beschrieben sind, sind noch bis Ende September in der „Schaufenstergalerie in der VarusRegion“ aufzuspüren. Daneben stellen etliche weitere Künstlerinnen und Künstler ihre Werke aus. Man findet sie in Bad Essen, Bramsche, Bohmte, Hunteburg, Ostercappeln und Wallenhorst. Bis Ende des Monats lohnt es sich also noch ungemein, sich auf Entdeckungsreise zu begeben und dabei seinen Horizont nicht unbedeutend zu erweitern, so, wie es auch dem hoffnungslosen Kunstbanausen heute gelang.
Das Booklet, der Ausstellungskatalog, liegt in jeder Touristinfo oder jedem Rathaus der beteiligten Gemeinden aus. Auf den letzen Seiten des Ausstellungskatalogs gibt es ein Gewinnspiel, an dem jede und jeder teilnehmen kann. Als Gewinne winken Gutscheine der beteiligten Gemeinden. Dazu muß man nur nach der Entdeckungsreise die Frage richtig beantworten, wieviele VarusRegion Logos sich in den beteiligten Schaufenstern finden lassen. Die Antworten kann man auf der letzten Seite eintragen und bis zum 5. Oktober in allen Rathäusern/Touristinfos der beteiligten Gemeinden abgeben. Auch der Postweg (richtig frankiert und rechtzeitig abgeschickt) ist dabei möglich.
Zu guter Letzt: Wer noch trostlose Areale an seinen vier Wänden hat, kann über KURIOS – Kulturring Ostercappeln sein Interesse am Kauf eines dieser Werke bekunden und es sich vielleicht bald schon nach Hause holen.
Und nun nix wie raus zum Schaufensterbummel in Farbe!
Wer schreibt hier?
Christian Schlichting
…liebt große und kleine Abenteuer in der Natur,
verbringt gerne viel Zeit an Nordjütlands Küste
und lebt in einem gemütlichen und uralten Fachwerk-Bauernhaus
am idyllischen Venner Berg.
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